Vorwort

Dieses Dokument ist kein HOWTO, wie man ein Interview liest. Ich mag auch die Idee eines HOWTO nicht. Wenn ich ein HOWTO für irgendwas nutze, dann mache ich das im Browser auf, packe das Browserfenster nach rechts auf dem Bildschirm, und mache dann links ein Terminal auf und folge halbmechanisch dem HOWTO. Einen Erkenntnisgewinn ziehe ich aus sowas normalerweise nicht.

Darum geht es hier aber. Um den Erkenntnisgewinn.

Daher sage ich euch jetzt kurz in knapp, wie man ein Interview liest: man versetzt sich in die Lage der Interviewten und des Moderators. Man versteht, was die da zu tun versuchen. Dann überlegt man sich, was man an deren Stelle sagen würde, wenn die Situation X ist. Dann, wenn die Situation Y ist. Nach einer Weile kann man aus dem Gesagten auf die Situation rückschließen.

Damit ihr das einschätzen könnt, erkläre ich euch erst die Rahmenbedingungen, wie so ein Interview funktioniert, und mit welchen Zielen die Beteiligten da rangehen. Den Rest müßt ihr euch selber erarbeiten, indem ihr wie beschrieben Interviews lest, und die Hintergründe recherchiert. Das funktioniert mit historischen Interviews am besten, weil man da rückblickend die Fakten halbwegs sicher kennt.

Und um euch mal ein Beispiel zu geben, werde ich umfangreich über ein Interview reden, an dem ich neulich beteiligt war. Da kann ich euch sagen, wie die Situation war, und wie es zu den Aussagen gekommen ist. Damit könnt ihr dann euer geistiges Modell füttern. Oder ihr könnt es ignorieren und euch durch historische Interviews durcharbeiten. Wichtig ist aber, dass ihr anfangt, Interviews nicht aus eurer Warte als Konsument zu lesen, sondern aus der Warte der Teilnehmer. Ihr müßt ein geistiges Modell der Interviewsituation aufbauen, und aus den Aussagen rückwärts rechnen, wie wohl die Situation war, die zu dieser Äußerung geführt hat.

Im Großen und Ganzen ist die wichtige Lektion für das Einschätzen der Vertrauenswürdigkeit der Inhalte, dass in den meisten Fällen Konsens über die Fakten herrscht. Der Unterschied kommt lediglich daher, wie man die Fakten interpretieren soll. Die aufzubauende Kernkompetenz an der Stelle ist daher, aus einer Darstellung der Fakten die tatsächlichen Fakten zu extrahieren. Der einfachste Weg dafür ist, wie man auch beim Auswerten von Daten in der Natur vorgeht. Man mißt mehrfach und mittelt die Meßfehler raus. Beim Interview könnt ihr die Teile als unkontroverse Faktenlage annehmen, bei denen sich die beiden Seiten nicht widersprechen.

Worauf ich hier nicht eingehe: Was ihr eigentlich erreichen wollt. Für die meisten Leute reicht es völlig, beurteilen zu können, wer "gewonnen" hat. Wer hat seine Position besser verkauft? Das lässt sich relativ einfach beschreiben und beurteilen, und ich gebe hier ein paar konkrete Indizien. Schwieriger ist die Frage, was die in dem Interview eigentlich wirklich sagen. Dafür braucht es mehr Übung, und das kann man auch nicht an ein paar Indizien festmachen. Das braucht tatsächlich Übung. Daher: lest mehr Interviews. Lest sie bewußt. Lernt, euch in die Beteiligten hineinzuversetzen.

Medienkompetenz-Grundkurs: Wie man ein Zeitungsinterview liest.

Der wichtigste Teil beim Lesen eines Interviews ist es, zu verstehen, worum es in dem Interview geht. Ein gutes Interview erfüllt mehrere Punkte aus einem Spannungsfeld sich teilweise widersprechender Anforderungen:

Häufige Fehler und Fallstricke in Interviews

Die Hauptfehler, die bei schlechten Interviews passieren können, sind dann auch Abweichungen von diesen Zielen. Häufig wirken Interviews so, als sei dem Interviewer mehr am Kommunizieren seiner Agenda gelegen als an den Antworten des Interviewspartners. Wenn sich ein Interview so liest, werden Entgleisungen des Gegenübers nur zum Teil ihm negativ angerechnet, weil er durch die lenkenden, überlangen und unprofessionellen Fragen provoziert oder gelenkt wurde. Der Leser empfindet das Gesprächs dann nicht als solches, es ist im Grunde auch keins. Hat der Interviewer nicht ein Minimum an Neugier und Interesse an der interviewten Person, weiß der geübte Leser dies bereits nach einer halben Seite.

Ein weiterer populärer Fallstrick ist es, wenn der Interviewer den Standpunkt des Interviewspartners zusammenfasst. Das kann manchmal unerlässlich sein, insbesondere wenn die Materie komplex und der Platz für das Interview klein ist. Aber so entsteht das Risiko, jemanden um das Vertreten eines Standpunktes zu bitten, den er sich so gar nicht zueigen gemacht hat. Das ist eine Form der unfairen Argumentation und kann ein ganzes Interview ruinieren. Insbesondere wenn der Interviewpartner wenig Erfahrung mit Interviews hat, kann er sich so in die Ecke gedrängt fühlen, und man bekommt in dem Interview gar keine verwertbaren Aussagen mehr aus ihm heraus. Auch der Interviewer sieht bei einer unrichtigen Zusammenfassung des Gesagten regelmäßig unprofessionell oder intellektuell überfordert aus.

Was man beim Führen eines Interviews zu beachten hat

Die wichtigste Regel für ein Interview ist, dass man die Aussagen nicht anfasst. Wenn jemand etwas gesagt hat, dann muß das auch genau so im Interview landen. Das klingt trivial, ist aber elementar. Müssen aufgrund von Platzmangel Kürzungen vorgenommen werden, sollen diese stets inhaltsneutral sein. Die sauberste Variante hierfür ist, dass man dem Interviewpartner das mitteilt, und ihn um eine gekürzte Variante seiner Antwort bittet.

Allgemein laufen Interviews besser, wenn der Gegenüber das Gefühl hat, er werde freundschaftlich am Kaffeetisch befragt, als wenn er sich als Angeklagter eines Tribunals vorkommt. Medienprofis hingegen nutzen Nähe gnadenlos aus, hier muß man daher Vorsicht walten lassen und Distanz wahren. Wenn man die Distanz nicht wahrt, werden Medienprofis versuchen, das Interview zu übernehmen und selber die Richtung steuern wollen. Wenn man das mit sich machen lässt, kriegt man am Ende eine Packung nichtssagende PR-Werbeparolen statt Antworten auf seine Fragen.

Wichtig für das Lesen eines Interviews ist, dass man sich darüber klarwird, was ein solches Interview überhaupt erreichen kann und soll. Wenn ich Herrn Schäuble zu den Schwarzen Kassen der CDU befragen würde, wäre das Extrem-Ergebnis, dass er Fehlverhalten einräumt. Das Ziel wird normalerweise nicht erreichbar in weiter Ferne bleiben. Daher ist es schon ein großer Erfolg, wenn er sich selbst widerspricht (auch früheren Aussagen außerhalb dieses Interviews) oder wenn er Dinge behauptet, die den früheren Aussagen seiner Fraktion widersprechen. Prallen gestellte Fragen wie beispielsweise im Interview mit Maybrit Illner vollkommen ab, kann man die Situation nur retten, indem man die Frage erläutert und nochmals deutlicher stellt.

Interviewziele am Beispiel eines Interviews mit Schäuble, absteigend sortiert

  1. Schäuble gibt kriminelles Verhalten zu, wird von der Polizei abgeführt
  2. Schäuble widerspricht früheren eigenen Tatsachenbehauptungen ("Online-Durchsuchungen? Macht das BKA seit Jahren!")
  3. Schäuble widerspricht früheren Ansagen seiner Partei oder Koalition ("Die Internetsperren machen wir doch, ab Herbst 2010")
  4. Schäuble weigert sich komplett, eine Frage zu beantworten
  5. Schäuble wird sauer, bezeichnet Frage als "Verschwörungstheorie", bricht Interview ab. Im Hintergrund sieht man Merkel kichern.
  6. Schäuble weicht aus, will sich nicht auf eine Aussage festnageln lassen
  7. Schäuble ignoriert die Fragen und betet seine Agenda herunter, wie toll das BKA doch gegen die Terroristen hilft und dass wegen der Vorratsdatenspeicherung Kinderschänder gefasst werden konnten

Wenn man sich das vorher überlegt, und mit einer realistischen Zielvorstellung an das Interview herangeht, sieht man schnell, dass auch vergleichsweise geringe Ergebnisse unter dem Strich schon ein erfolgreiches Interview ergeben können.

Im Allgemeinen ist es nicht zielführend, Interviewpartner auf Fragen festzunageln. Wenn jemand partout zu einer Frage nichts sagen will, ist das auch eine Aussage und genau so publizierenswert als hätte er ein paar nichtssagende Floskeln gesagt. Wenn der Interviewer an so einer Stelle anfängt, den Gegenüber zu einer Aussage zwingen zu wollen, gibt es für den Leser am Ende keinen Erkenntnisgewinn und der Interviewer sieht wie ein freidrehender Inquisitor aus und büßt Glaubwürdigkeit ein. Leser fragen häufig nach, warum in einem Interview denn nicht nochmal nachgelegt wird, wieso man den Politiker XY damit gehen läßt, dass er zu etwas keine Stellung nimmt, wieso man ihm da nicht noch einmal klar ins Gesicht sagt, dass sein Verhalten unakzeptabel ist. Das ist alles nicht Aufgabe des Interviews. Das Interview ist dazu da, für den Leser offensichtlich zu machen, dass hier jemand zu einer bestimmten Frage keine Stellung nehmen wollte, und der Bürger kann dann den Politiker bewerten und abwählen. Wenn ein Politiker sich die Blöße gibt, zu einer klaren Frage keine Stellung nehmen zu wollen, ist das Interview schon ein deutlicher Erfolg.

Es ist für alle Beteiligten vorteilhaft, sich vor einem Interview einen "Schlachtplan" zu überlegen.

Bei Politiker-Interviews hat das zu einer Art Extremsportart geführt, wenn Politiker auf die gestellten Fragen überhaupt nicht eingehen und nur stur ihre vorformulierten "Talking Points" runterspulen. Das kann man nicht nur bei Print-Interviews beobachten, sondern noch deutlicher bei Fernsehinterviews. Printinterviews werden nämlich in Deutschland vor dem Publizieren üblicherweise noch "autorisiert". Dazu wird das fertige Interview den Interviewpartnern vorgelegt, die dann ihnen ungenehme Absätze streichen lassen können. Das Druckmittel dahinter ist, dass man einem Journalisten keine weiteren Interviews gewähren wird, wenn er diese "Autorisierung" verweigert. Im Fernsehen hingegen wird häufig nicht mehr geschnitten vor dem Senden, und daher kann man oft beobachten, wie ein Politiker auf eine Frage überhaupt nicht eingeht, sondern einen völlig zusammenhangfreien Text abspult. Auch hier hilft nur noch das erneute Stellen der Frage. Aber auch hier gilt am Ende, dass man niemanden zwingen kann, auf die Fragen zu antworten. Wenn jemand partout andere Dinge erzählt, ist für den Leser offensichtlich, dass dieser Politiker ihn nicht ernstnimmt, und das trägt meiner Ansicht nach die Hauptschuld an der nachlassenden Wahlbeteiligung.

Letztlich bewerten Leser ein Interview im Allgemeinen nicht so sehr nach inhaltlichen Punkten, sondern danach, welcher Interviewpartner "souveräner" rüberkam und wer überzeugender (selbstsicherer) seine Punkte vertreten hat. Inhaltliche Fragen sind auch wichtig, aber ebenso wichtig sind Äußerlichkeiten. In den meisten Fällen kann daher ein Streit-Interview schon als Erfolg gesehen werden, wenn der Befragte für Kritikpunkte keine Antworten hat, sondern ausweicht oder mit vorgefertigter, weichgespülter Krisen-PR reagiert.

Analyse eines konkreten Interviews

Das Interview, das ich als Beispiel gewählt habe, wurde am 20. November 2009 unter der URL http://blogs.sueddeutsche.de/schaltzentrale/2009/11/20/wikimedia-%E2%80%93-quo-vadis-streitgesprach-zwischen-felix-von-leitner-und-pavel-richter/ veröffentlicht und ist ein Streitgespräch zwischen Pavel Richter (dem Geschäftsführer der Wikimedia e. V., einem Förderverein für die deutschsprachige Wikipedia und andere Projekte) und mir. Moderator war Johannes Boie von der Süddeutschen Zeitung. Das Interview lief per E-Mail ab, was auch an dem teilweise etwas unrunden Lesefluss Schuld hat.

Herr von Leitner, Sie haben Wikimedia in den letzten Tagen relativ harsch und an mehreren Stellen kritisiert. Könnten Sie Ihre Kritik und Ihre Forderungen nochmal in wenigen Sätzen zusammenfassen?

Felix von Leitner: Gerne. Wikimedia kam erst später dazu, die Debatte drehte sich ursprünglich um die Wikipedia, genauer um die Relevanzkriterien in der Wikipedia. Anhand dieser wird entschieden, ob ein Artikel in der Wikipedia bleiben kann oder rausgelöscht wird. Dann kam die Spendendebatte dazu, weil die Spendenkampagne der Wikimedia e.V. psychologisch unklug den Eindruck erweckt, das hier gesammelte Geld käme direkt und unmittelbar der Wikipedia zugute. Das stimmt leider nur zum Teil. Wikimedia versucht auch nicht, mehr Einfluß auf Wikipedia zu nehmen, um strukturelle Probleme wie die seit Jahren stagnierende Neuartikelquote zu lösen.

Hier sieht man sehr gut, dass der Moderator ein erfahrener Interviewführer ist. Er lässt mich meinen Standpunkt selber beschreiben, und seine Frage ist deutlich kürzer als meine Antwort. So wirkt der Moderator nicht so, als wolle er dem Interview seine Agenda aufdrücken und ich kann mich später nicht beschweren, dass mein Standpunkt fehlrepräsentiert wurde.

Für mich als Interviewpartner ist an dieser Stelle vor allem wichtig, dass ich nicht groß ins Schwafeln verfalle. Das ist besonders bei einem E-Mail-Interview eine Gefahr. Hier ist auch der Moderator gefragt, die Antworten nicht zu lang ausfallen zu lassen. Sonst verliert man schon bei der ersten Frage den Großteil der Leserschaft, weil der erste Eindruck des Interviews zu unstrukturiert ist. Hier zahlt sich aus, wenn ich mir vor dem Interview Gedanken gemacht habe, welche Punkte ich für besonders wichtig halte, denn diese werde ich dann auch zuerst nennen wollen.

Für mich als Interviewpartner gelten natürlich die selben Fallen, die auch für den Moderator gelten. Auch ich muß versuchen, nicht wie ein Inquisitor zu wirken und neben jeder Kritik auch ein Stück konstruktives Friedensangebot äußern. Angesichts der Frage waren mir die Hände soweit gebunden, dass ich erst einmal die Zeitlinie der Diskussion ausführen mußte. Das konnte ich aber nutzen, um an der Stelle zu betonen, dass es ursprünglich gar nicht um Wikimedia ging. Das ist wichtig, weil ich so den Eindruck vermeide, als führte ich einen heiligen Krieg gegen die Wikimedia, und vermitteln kann, dass es hier um inhaltliche Fragen geht, nicht um eine Vendetta.

Für meine Rolle in dem Interview ist es auch sehr wichtig, dass ich keine falschen Anschuldigungen bringe. Damit würde ich der Gegenseite lediglich die Gelegenheit geben, die zu widerlegen und damit den Rest meiner Argumente zu entwerten.  Nicht vergessen: Am Anfang kommen die wichtigen Punkte. Wenn ich mir da schon eine Schwäche leiste in dem Interview, glaubt man mir den Rest erst recht nicht.

Die Punkte, die mir besonders wichtig waren, waren die Relevanzkriterien und die Spendenpraxis. Hier muß man als Interviewpartner den Reflex unterdrücken, gleich am Anfang alle Unterpunkte anzusprechen. Es ist Aufgabe des Moderators, die relevanten Details durch Nachfragen zu klären, und das Interview wirkt auch viel lockerer, wenn da keine langen Textwüsten von einem Interviewpartner am Stück kommen.

Herr Richter, haben Sie mit Ihrem Spendenaufruf einen falschen Eindruck erweckt?
Pavel Richter: Nein. Jede Spende für Wikimedia Deutschland kommt direkt und unmittelbar der Wikipedia und ihren Schwesterprojekte zugute. Wir betreiben ein Rechenzentrum in Amsterdam (Aufwand in diesem Jahr: über 100.000 Euro), das allen Wikipedia-Projekten weltweit zu Gute kommt. Wir haben einen Software-Entwickler angestellt, der “MediaWiki”, die Software hinter der Wikipedia, weiter verbessert. Wir haben externe Aufträge in diesem Jahr vergeben, um die Wikipedia benutzerfreundlicher zu machen. All das wird aus Spendengeldern bezahlt und dient direkt der Wikipedia.

Der Moderator hat hier gesehen, dass der Spendenvorwurf derjenige ist, zu dem Pavel direkt Stellung nehmen kann, und spricht ihn daher gezielt darauf an.  Wieder ist die Frage nicht schwafelig sondern kurz und knapp und der Moderator wirkt seriös und professionell und nicht wie ein Selbstdarsteller.

An der Antwort von Pavel kann man sehr schön sehen, dass es in Interviews sehr selten um konkrete Tatsachenbehauptungen geht.  Es kommt praktisch nie vor, dass beide Seiten sich über konkrete Fakten uneinig sind.  Ich habe der Wikimedia vorgeworfen, dass die Spenden nur zum Teil der Wikipedia zu Gute kommen.  Pavel bestreitet das nicht, sondern versucht in seiner Antwort die Situation umzudeuten.  Die Sachlage selbst ist gar nicht kontrovers, Pavel muß das aber so darstellen, indem er das "Nein." an den Anfang stellt, weil er ja gekommen ist, um meinen Vorwurf abzuwehren.  Die Fakten stellt er genau so dar wie ich, nämlich dass nur ein Teil der Spenden an die Wikipedia geht, der Rest geht woanders hin. Pavel drückt das "woanders" als "ihre Schwesterprojekte" aus.

Auch Pavel hat mit diesem Interview Ziele verbunden.  Er hat sich vorgenommen, konkrete Dinge anzusprechen.  Aus seiner Sicht kann dieses Interview zwei positive Effekte haben.  Erstens kann er meine Kritik abwehren, und zweitens kann er für seinen Verein PR machen, kann in der Süddeutschen erzählen, was sein Verein so macht.  Wenn er das gut macht, wird er damit das Spendenaufkommen sogar noch erhöhen, trotz der Kontroverse.  Daher ist für ihn wichtig, möglichst viele Aspekte der Wikipeda und der Arbeit von Wikimedia aufzuzählen.  Das hat mehrere positive Auswirkungen:

  1. kann er so den Eindruck vermitteln, dass er alles gut im Griff hat. Das ist eher für die interne Selbstdarstellung wichtig als für die Außendarstellung, wo man davon sowieso ausgehen würde.
  2. kann er das Problem, um das sich sein Verein kümmert, als komplex und vielschichtig darstellen. Damit begründet er die Existenz des Vereins implizit. Das müssen Vereine tun, wenn sie Spenden sammeln wollen.
  3. stellt er so dar, dass sie in dem Verein konkrete Dinge tun und nicht nur rumsitzen und Zeitung lesen. Das ist der Hauptfokus der Pressearbeit von Vereinen, die Spenden sammeln: Zu erklären, dass sie mit dem Geld sinnvolle Dinge tun. Das Rote Kreuz macht das, indem sie Fotos aus Afrika zeigt. Wikimedia macht das, indem sie Prospekte publizieren und in Zeitungen Wörter wie "MediaWiki" in die Hand nehmen.

Natürlich gilt hier: viel hilft viel.  Je grandioser die Arbeit des Vereins klingt, desto besser hat Pavel seine Arbeit gemacht.  Daher lässt Pavel da auch schon mal Fünfe gerade sein und spricht von einem Rechenzentrum, das sie in Amsterdam betreiben, und nennt Zahlen.  Für die Zielgruppe ist das perfekt, denn die weiß nicht, was ein Rechenzentrum genau ist, was sowas kostet, und ob die Zahl realistisch ist.

Je nach Anspruch der Publikation, in der das Interview veröffentlicht wird, ist es Pflicht des Moderators, solche Details anzusprechen oder nicht.  Auf der einen Seite ist das gute Pressearbeit, wenn der Moderator widersprüchliche oder falsche Details anspricht, auf der anderen Seite wirkt es wie eine unseriöse Hexenjagd, wenn man das übertreibt.

Die Hauptverteidigung gegen solche Nachfragen ist, dass man jeweils 3-4 oder noch mehr Punkte erwähnt.  Wenn die Gegenseite die dann alle kritisiert, sieht das wie eine Hexenjagd aus.  Wenn die Gegenseite nur einen oder zwei davon kritisiert, sieht es aus, als hätten die nichts substanzielles vorzubringen und müßten sich an Nebenkriegsschauplätzen Stellungskriege liefern.

Das ist auch einer der Gründe, wieso es für Pavel eine gute Strategie war, mehr als das Rechenzentrum zu erwähnen.

Ich kann diese Falle umgehen oder entschärfen, indem ich zu jedem Punkt so wenig Text wie möglich vorbringe.  Wer mehr sagt, wirkt eher so, als sei er in der Defensive.

Wikimedia Deutschland unterstützt die Wikipedia (und andere Projekte, wie Wikisource, Wikiversity, Wikimedia Commons, etc.) aber nicht nur technisch, sondern auch auf viele andere Arten: durch Autorentreffen und Workshops, durch Literaturstipendien und die Digitalisierung historischer Dokumente. Wir haben über 350.000 Bilder der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, wir gehen an Schulen und vermitteln den kritischen Umgang mit der Wikipedia. Wir sind mit unserer Geschäftsstelle in Berlin aber auch Ansprechpartner für die Öffentlichkeit (daher haben wir eine Pressesprecherin), und immer wieder auch von Anwälten.

Pavel hat hier so viele Dinge aufgezählt, dass ich die unmöglich alle angreifen kann, sonst kriege ich meine eigene Botschaft in dem Interview nicht kommuniziert, und das sieht wie eine Hexenjagd aus.  Dabei wären fast alle dieser Punkte angreifbar gewesen.  Der Punkt geht klar an Pavel.

Bei den Autorentreffen hätte man z.B. fragen können, wieso sie das nicht virtuell machen, Videokonferenz mit Skype oder sowas.  Bei den Workshops hätte man fragen können, wieso sie da nicht lieber Computer Based Training ins Internet stellen, dann haben da viel mehr Menschen was von.  Bei den Literaturstipendien hätte man fragen können, ob für sowas nicht Bibliotheken da sind.  Die Digitalisierung spreche ich weiter unten an, da sind 2009 nur ca 500 Euro für ausgegeben worden, das hätte ich an ihrer Stelle gar nicht angesprochen.  Da gebe ich ja privat im Jahr mehr für Digitalisierung aus.

Dazu kommt noch jede Menge Unterstützung für die internationale Wikimedia-Bewegung. Hierzu zählt u.a. das jährliche Treffen “Wikimania” und das internationale Chapter-Meeting. Dabei finanzieren wir Reisekosten für Wikipedianer aus vielen Ländern, damit diese an den Treffen teilnehmen können.

Auch das ist gute PR von Pavel. Er benutzt lauter positiv besetzte Wörter wie "internationale Bewegung", "jährliches Treffen", "teilnehmen", und so weiter.

Exemplarisch will ich an den Reisekosten beleuchten, was für ein Minenfeld das inhaltlich ist.  Ja, Wikimedia finanziert Reisekosten.  Aber nicht von den Aktivisten, sondern von Funktionären in den jeweiligen Organisationen.  Das ist also quasi, als würde man Reisekosten des Vorstandes von e.on als Förderung der Energieversorgung auslegen.  Im Übertragenen Sinne ist da was dran, aber man muß sich schon ganz schön verrenken, um das so darzustellen.

Aus meiner Sicht ist es nicht sinnvoll, solche Details jetzt im Interview anzusprechen.  Da kann im Grunde nichts positives bei rauskommen für mich.  Pavel kann sagen "doch, wir fliegen auch Aktivisten ein", und dann haben wir Aussage gegen Aussage und keiner kann es prüfen.

Die Strategie von Pavel ist hier also im Großen und Ganzen aufgegangen.

Für die Medienkompetenz ist wichtig, dass man das bedenkt, wenn man ein Interview liest.  Da stellt sich häufig die Frage, wieso der Interviewer hier eigentlich nicht weiter nachhakt.  An der Stelle muß man sich ausmalen, was durch Nachhaken erreichbar gewesen wäre, und ob sich das wirklich hätte lohnen können.

von Leitner: Der Teufel liegt im Detail. Wikimedia hat kein Rechenzentrum (kriegt man nicht für 100.000 Euro), sondern hostet da ein paar Server bei jemand anderem in dessen Rechenzentrum. Sicher, dieser Punkt ist nur Semantik, aber es zeigt, dass der Geschäftsführer von Wikimedia selber nicht so genau weiß, was sein Verein eigentlich in Amsterdam betreibt. Auf diesen Servern liegt auch nicht die Wikipedia, sondern das sind nur Proxy-Server, weil der Verein Angst hat, juristisch angreifbar zu werden, wenn er selber Inhalte ins Internet stellt.

Hier stand ich vor der Frage, welchen Punkt ich angreifen kann.  Ich habe mich für das "Rechenzentrum" entschieden, weil ich Techniker bin und mir von meinen Netzwerker-Freunden viel Gelächter anhören musste, dass Wikipedia für 100.000 Euro ein Rechenzentrum aufgebaut kriegt, wenn Google da schon mal 400 Millionen für in die Hand nehmen muß.  Und Googles RZ ist auf dem Dorf in Österreich, nicht in einer teuren Metropole wie Amsterdam.

Der Nachteil ist, dass ich dafür ein bisschen ausholen muß, was die Frage sehr lang werden lässt.

Der Punkt, dass die Server gar nicht Wikipedia hosten, sondern das nur Proxies sind, geht leider an der Stelle ein bisschen unter. Der durchschnittliche Leser wird nicht verstehen, was das heißt, und wieso ich das als Argument bringe. Ich hatte gehofft, dass Pavel sich hier verteidigt und das dadurch schlimmer macht, darauf ist er aber nicht reingefallen, und der Moderator hat nicht nachgehakt.

Richter: Erstmal sind die 100.000 Euro die Summer für 2009, hier liegt der Teufel tatsächlich im Detail. Inhaltlich bleibt es dabei, was wir da machen kommt direkt der Wikipedia und den anderen Projekten zugute, egal wie man es nennt. Leider sagt Herr von Leitner dazu nichts.

Pavel hat das an der Stelle klar erkannt, dass längliche Ausführungen aussehen, als sei er in der Defensive und hätte da was zu verteidigen, und daher antwortet er sehr knapp.  So wirkt die Frage rein vom Umfang her wie eine abwegige Verschwörungstheorie und die Antwort wie eine kurze Richtigstellung.  Inhaltlich gibt es natürlich nichts, was Pavel sagen könnte, um meinen Vorwurf zu entkräften.  Für 100.000 Euro kriegt man nirgendwo auf der Welt ein Rechenzentrum gebaut; schon der Betrieb kostet mehr als das.  Diese Runde hätte angesichts des relativen Umfangs der Frage und der Antwort trotzdem für mich verloren gehen können, wenn Pavel nicht am Ende diesen völlig unpassenden und unprofessionellen persönlichen Angriff mit Namensnennung gebracht hätte.

Auch ich habe mir einen persönlichen Angriff geleistet, aber ich habe seinen Namen nicht genannt dabei. Daher wirkt meiner mehr wie sachliche Kritik an ihm als Funktionsträger bei Wikimedia, seiner kommt eher so rüber, als fühle er sich von mir persönlich beleidigt.

Und auch der Satz in der Mitte ist ein Eigentor, weil er dort ja mit "und den anderen Projekten" meinen Hauptvorwurf aus dem ersten Absatz des Interviews bestätigt.

von Leitner: Die letzte Digitalisierungs-Sache liegt meines Wissens mehrere Jahre zurück. Was für aktuellere Digitalisierungsprojekte gibt es denn da gerade?

Hier war ich in Zugzwang.  Wenn ich nur einen seiner vielen Punkte kritisiere, sieht es so aus, als seien die anderen alle in Ordnung. Beachtet auch, dass ich hier nichts konkret vorwerfe sondern nur eine Frage stelle. Der Gedanke dahinter ist natürlich, dass er viel besser weiss, was bei den Digitalisierungsn kritisierenswert ist, und ich da womöglich noch ein paar Details bei lernen kann.

Richter: Auch hier gilt: Einfach mal nachfragen! Da kann man z.B. bei Wikisource gucken, was die so machen. Und die letzte Digitalisierung mit Spendengeldern ist das hübsche Buch von Joseph von Eichendorff, “Aus dem Leben eines Taugenichts”, und “Das Marmorbild”. Wer es lesen möchte, klickt hier. Keine großen Summen, aber für die dortige Wikisource-Community wichtig.

Hier war meine Frage wieder kürzer als seine Antwort und seine Antwort wirkt daher so, als sei er in der Defensive.  Und Pavel argumentiert auch aus der Defensive, muß selber einräumen, dass es hier um vernachlässigbare Beträge geht, und dass die Digitalisierung nicht für die Welt wichtig ist, sondern im Wesentlichen nur für die Wikisource-Community, von der von der Zielgruppe des Interviews so gut wie niemand jemals gehört haben wird. Und der "Einfach mal nachfragen"-Teil am Anfang erinnert an einen Oberlehrer, das wirkt weder souverän noch sympathisch.

Hier hätte Pavel deutlich besser antworten können.  Ich hätte keinesfalls angefangen, auf dem Budget herumzuhacken an der Stelle, weil das wie eine persönliche Fehde ausgesehen hätte und nicht wie eine ernsthafte Sachkritik.  Wenn Pavel also nicht angesprochen hätte, dass das keine großen Summen sind, hätten es die Leser nicht erfahren.

von Leitner: Die 350.000 Bilder sind in der Tat neu und ein gutes Projekt, die kamen allerdings schon digital vom Bundesarchiv.

Hier habe ich mich wieder bemüht, die Gegenseite für einzelne Aspekte ihrer Arbeit zu loben.  Die größte Gefahr in so einem Streitgespräch ist für mich, dass ich da wie ein kleiner kläffender Wadenbeißer rüberkomme, der nicht wegen einzelner Sachfragen Kritik äußert, sondern weil er aus Prinzip dagegen ist.  Dieser Eindruck stellt sich z.B. häufig bei Streitgesprächen zwischen Opposition und Regierung ein, wenn die Opposition überhaupt nicht inhaltlich argumentieren kann, wieso sie eigentlich gegen etwas ist, sondern nur mit ideologischen Kampfbegriffen kommen kann.  Der Leser merkt das sehr schnell und nimmt dann nicht nur den Kritiker nicht mehr ernst, sondern ist auch geneigt, Kritik aus der Ecke generell als pure Ideologie zu verwerfen.

Trotzdem muß da natürlich auch ein bisschen Angriff rein in den Satz, daher erwähne ich, dass Wikimedia da nichts digitalisieren mußte.  Pavel hatte das in einem Kontext mit ihrem Digitalisierungsprojekt erwähnt, um den Eindruck entstehen zu lassen, sie müßten da alte Bücher aus Vorkriegs-Bergwergstollen hochtragen und im Reinraum digitalisieren.

Richter: Hier geht es um die Gespräche mit Kooperationspartnern wie dem Bundesarchiv, die wir geführt haben, nicht ums Digitalisieren – nicht alles ist reine Technik, Herr von Leitner.

Wenn Pavel den Teil nach dem Gedankenstrich weggelassen hätte, hätte das ein Punkt für ihn werden können.  So sieht das wieder aus, als argumentiere er da mindestens genau so sehr gegen mich wie gegen meine Kritikpunkte.  Später konkretisiert Pavel das noch mal als Vorwurf, dass ich ja Techniker sei und die Probleme alle nur aus technischer Warte sähe.  Damit tut man sich in Interviews keinen Gefallen.  Je weniger man auf den Gegenüber eingeht, und je mehr man auf seine Kritikpunkte eingeht, desto besser wirkt das am Ende.

Politiker argumentieren gerne gegen die Person und nicht gegen die Sachargumente.  Beim Bürger löst das im Allgemeinen Unverständnis aus und lässt beide Seiten unprofessionell wirken.

von Leitner: Wenn ich gemein wäre, könnte ich jetzt fragen, was Sie denn als Ergebnisse für ihre Software-Weiterentwicklung vorzuweisen haben. Auf ihrer Homepage sieht man drei Projektmanager und einen Softwareentwickler. Sollte das nicht andersherum sein?

Das war natürlich eine sehr fiese Frage, geradezu ein Schlag unter die Gürtellinie.

In der direkten Konfrontation in einem Interview ist die Andeutung die stärkste Waffe, die man hat.  Hier kann ich mit sehr wenig Platzverbrauch andeuten, dass die Projektmanager alle für den Softwareentwickler zuständig sind und dessen Zeit durch überflüssigen Management-Overhead verplempern, und er daher schon zeitlich gar nicht dazu kommt, Code zu schreiben.  Das stimmt natürlich so pauschal nicht.  Daher schreibe ich die "Wenn ich gemein wäre" Floskel dran, die das schon entschärft.  Trotzdem habe ich Pavel damit in Zugzwang gebracht.  Er muß jetzt länglich erklären, dass die ja auch ganz andere Dinge tun.

Und er muß an sich auch die Projekte aufzählen und dann jeweils noch erklären, worum es jeweils geht, um die Andeutung zu entkräften, dass keines von denen irgendwelche Fortschritte gemacht hat.

Richter: Die Softwareprojekte hatten wir hier be- und ausgeschrieben: Die laufen gerade, Ergebnisse werden an gleicher Stelle dargestellt, sobald sie fertig sind. Und die Verbesserung der Software ist ein internationaler Ansatz, da arbeitet ein Heer von Freiwilligen ebenso mit wie die Entwickler der Wikimedia Foundation mit. Und warum haben nur Softwareentwickler etwas zur Wikipedia beizutragen, Projektmanager, die sich etwa um Bilderbefreiung oder unser Seniorenprojekt kümmern, aber nicht? Die Wikipedia ist ein vielschichtiges Projekt, das man nicht auf Software und Server reduzieren kann.

Spannenderweise verteidigt Pavel jetzt hier einen Punkt, den ich gar nicht angegriffen hatte.  Ich hatte nicht bezweifelt, dass die Projekte ordnungsgemäß ausgeschrieben wurden.  Aber das ist natürlich ein guter Kniff, um sich die Aufzählung und Erklärung der Projekte zu sparen.  Niemand hat in einem Interview Lust, umfangreiche Erklärungen für irgendwelche Details zu lesen, daher hat er sich hier geschickt aus der Affäre gezogen.  Ein Resteindruck bleibt allerdings, dass er womöglich die Details gar nicht hätte beantworten können.  Unter dem Strich ist das aber eine bessere Wahl als sich in irgendwelchen Software-Details zu verlieren.

Die beste Variante wäre aus meiner Sicht gewesen, wenn er hier die Offensive ergriffen hätte, und anhand eines der Projekte beschrieben hätte, was sie da gerade für bahnbrechende Arbeit leisten.  Mir fehlt da jetzt allerdings auch der Überblick, vielleicht ist keines der Projekte "sexy" genug für so eine PR-Geschichte.

von Leitner: Was glauben Sie denn, was ein typischer Spender glaubt, wofür seine Spende verwendet wird? Eine Zedler-Medaille? Knapp 11000 Euro sind 2008 in Büromaterialien und Zeitschriften fürs Wikimedia-Büro geflossen. Laut ihrer Homepage haben Sie 11 Mitarbeiter. Das sind aber viele Zeitungen!

Hier zünde ich die taktische Atombombe unter meinen Argumenten.  Das ist völlig offensichtlich, dass niemand annimmt, dass mit seiner Spende Zeitungen für das Büro von Wikimedia gekauft werden.  Wer bei der Wikipedia auf "spenden" klickt, der nimmt an, dass mit seinem Geld die Wikipedia betrieben wird.

Für Pavel gibt es da auch keine gute Verteidigung.  Die Wahrheit ist, dass die Wikipedia prima läuft, ohne dass Wikimedia irgendwas dafür tut.  Wikimedia könnte morgen zumachen und Wikipedia würde weiter laufen und weiter funktionieren.  Es gäbe Einschränkungen, der Zugriff würde langsamer, der Toolserver würde vermisst werden, aber den könnte auch die US-Foundation neu aufsetzen.  Die Software ist ja frei und kann einfach so kopiert werden, und Server aufsetzen können auch die Amis.

Die Wahrheit ist weiter, dass die US-Wikimedia genug Geld hat.  Die haben so viel Geld, dass sie es verkraften können, wenn die Spenden für den deutschsprachigen Raum praktisch komplett von Wikimedia e. V. abgesogen werden, und nichts davon an sie weiterüberwiesen wird.

Wenn Pavel irgendwas davon erzählt, brechen ihm womöglich die Spenden weg.

Also bleibt Pavel nur Ausweichen und das Problem umzudefinieren.

Richter: Der “typische Spender” möchte, davon gehe ich aus, die Wikipedia fördern, in all ihrer Breite und in allen Aspekten. Die Technik ist ein Teil davon, aber eben nur einer von mehreren. Ich hatte ja bereits erklärt, was wir in diesem Jahr machen, wohin das Geld geht. Zum Posten “Büromaterial, Bücher und Zeitschriften”: Wir sind in 2008 in neue Räume gezogen, in dem Posten stecken daher jede Menge Einmalkosten; aber natürlich kostet der Betrieb einer Geschäftsstelle Geld, auch für Büromaterial und Bücher. Und auch das Literaturstipendium des Vereins ist in dem Posten enthalten, damit schaffen wir Bücher an und stellen diese Wikipedianern zur Verfügung. Diese erstellen damit neue Artikel oder verbessern bestehende.

Mit "in all ihrer Breite und in allen Aspekten" ist der Versuch, das Problem umzudefinieren.  Das kann funktionieren, wenn man es sehr geschickt macht, aber kann auch voll nach hinten losgehen.  In diesem Fall funktioniert es ganz gut, aber über die Zeitungskosten  habe ich noch darüber hinaus Erklärungsbedarf geschaffen, auf den Pavel jetzt auch eingehen muß.

Pavel kann hier damit punkten, dass die Bürokosten zum Großteil einmalige Kosten sind. Das können wir erst prüfen, wenn der Tätigkeitsbericht 2009 vorliegt, auf den alle schon gespannt warten.  Bis dahin glaube ich Pavel das.  Das Literaturstipendium ist ein relativ schwaches Argument, wie ich finde, aber Pavel muß es an der Stelle bringen und damit seine Gesamtargumentation devaluieren.

von Leitner: Mal etwas grundlegender: Was meinen Sie mit “freiem Wissen”? Ist Freiheit nicht immer die Freiheit des Nutzers, selber zu entscheiden, welche Artikel er für relevant hält und welche nicht?

Hier reiche ich die Friedenspfeife.  Meine Idee im Interviewablauf war, dass ich erst mit ein paar berechtigten Punkten das Schiff Wikimedia sturmreif schieße, und ihnen dann zwei-drei unverfängliche Friedenspfeifen reiche.  Die offizielle Position der Wikimedia ist, dass sie sich aus inhaltlichen Fragen der Wikipedia heraushält und sich auch für nicht zuständig hält.  Das können sie natürlich in der Praxis nicht durchhalten.  Und Pavel hätte sich nichts vergeben, wenn er hier gesagt hätte, Ja, Herr von Leitner, unsere offizielle Vereinssicht ist, dass wir inhaltlich keinen Einfluß nehmen, aber privat finde ich ja auch, dass wir über die Relevanzkriterien nochmal reden sollten.  Das hätte nichts gekostet, hätte dem Leser signalisiert, dass er kompromissbereit ist und mit sich reden lässt, und wir hätten uns von der Aufzählung der Kritikpunkte lösen können.  Das Interview hätte einen schönen, runden Abschluß gefunden, und alle wären zufrieden nach Hause gegangen.

So hatte ich mir die Dramaturgie ausgemalt, aber leider hat es sich so nicht abgespielt.

Richter:  Das “frei” in Freiem Wissen steht für mich für die Freiheit der Weiternutzung, für die Freiheit des Zugangs, die Freiheit, dazu beizutragen, aber auch die Freiheit von Werbung, von politischen, religiösen, weltanschaulichen Vorurteilen und Sichtweisen. Wissen ist aber auch nur dann wirklich frei, wenn Menschen nicht nur die technischen Voraussetzungen zum Zugang haben, sondern wenn keine Bildungsschranken und keine sozialen Schranken sie an der Nutzung hindern. Im Kleinen dient dazu etwa unser Schulprojekt, das wir im nächsten Jahr deutlich ausbauen wollen: Hier wird Schülern anhand der Wikipedia Mediennutzung und Medienkompetenz vermittelt. Und mit unserem Projekt speziell für Senioren schaffen wir hoffentlich die Möglichkeit, dass diese ihr lebenslang erworbenes Wissen allen anderen Menschen frei zugänglich machen. Das alles ist für mich “Freies Wissen”.

Hier channelt Pavel plötzlich Richard Stallman und gibt den Fundamentalisten.  Während er vorher immer auf die Breite der Optionen abgehoben hat, die sein Verein unterstützt, und wie inklusiv sie da alle Schwesterprojekte mitfördern, macht er hier plötzlich eine 180°-Drehung.  Das ist sehr schade, weil es uns am Ende das Happy End kaputt gemacht hat.

Sehr spannend ist, dass er plötzlich von sich privat redet, nicht von sich als GF des Vereins.  Er findet, dass Freiheit für dieses und jenes steht.  Nicht "wir finden", wie ein Verein oder ein Sprecher normalerweise sagen würde.

Inhaltlich hat er mir hiermit natürlich einen Sack voller angreifbarer Punkte in die Hand gedrückt.  Ich finde z.B. nicht, dass die Wikipedia frei von Werbung ist.  Im Gegenteil, da ist so ein nerviges Spendenbanner.  Frei von Vorurteilen, das kann ich auch nicht bestätigen.  Ich halte das sogar für unerreichbar bei einer kleinen Minderheit an Lemmata.  Z.B. bei der Schweinegrippe, Fragen der Religion oder dem JFK-Attentat wird es nie einen vorurteilsfreien, neutralen Blickwinkel geben, solange Menschen die Artikel schreiben.

So bedauerlich es ist, dass Pavel meine Friedenspfeife nicht angenommen hat, umso schlauer nutzt er diese Antwort dann für PR für den Verein, indem er das Schul- und das Seniorenprogramm anspricht.  Und die sind so schlau gewählt, dass ich unmöglich etwas gegen sie sagen kann.  Wer könnte etwas gegen ein Schulprogramm haben, in dem Medienkompetenz vermittelt werden soll?  Keiner!

von Leitner: Wenn Sie sich dem freien Wissen verpflichtet fühlen, wieso betreiben Sie dann nicht eine Deletionpedia (das ist eine Wikipedia mit den aus der Hauptwikipedia gelöschten Artikeln, damit die nicht verloren sind)?

Nach der Andeutung ist dies die zweitstärkste rhetorische Waffe im Arsenal eines Interviewers: das Aufbauen eines Widerspruches in der Argumentation der Gegenseite.  Während die Leser häufig damit überfordert sind, Fakten zu prüfen, so erkennen sie doch recht gut, wenn sich jemand selbst widerspricht, und werten das negativ.

In der Politik hat das soweit geführt, dass praktisch alle Reformen nur noch mit dem Argument der "Harmonisierung" begründet werden, also mit der Auflösung von Widersprüchen.

Hier konstruiere ich eine Identität aus dem formulierten Wikimedia-Ziel von dem "freien Wissen" und meinem Vorschlag der Deletionpedia und kann so einen Widerspruch aus ihrem Handeln und ihrem formulierten Ziel herstellen.

Gegen diesen Angriff kann man sich nur verteidigen, indem man entweder den Widerspruch auflöst (was sehr schwierig sein kann, wenn das genutzte Ziel schwammig genug formuliert ist, wie das häufig eben der Fall ist in Visionen von Parteien und großen Organisationen), oder indem man ausweicht oder einen noch größeren Widerspruch aufbaut.

Richter:  Erstens birgt der Betrieb einer “Deletionpedia” unkalkulierbare rechtliche Risiken (Urheber-, Persönlichkeitsrecht, etc.), die der Verein nicht eingehen kann. Aber auch hier ist der technische Aspekt nicht alles: Wichtiger noch ist, dass der Umgang mit gelöschten Artikeln etwas ist, was innerhalb der Wikipedia diskutiert und entschieden werden muß. Der Verein kann und will dem nicht vorgreifen. Die Diskussion ist im Projekt in vollem Gange, etwa hier. Parallel wird derzeit ein Meinungsbild vorbereitet. Konkret geht es darum, ob in Zukunft ein deutlich größerer Kreis von Leuten gelöschte Artikel einsehen kann als bisher.

Pavel versucht es mit dem Aufbau des größeren Widerspruches.  Es gibt keinen größeren Widerspruch als juristische Probleme, da fragt auch normalerweise niemand nach.

In diesem Fall stimmt es nicht, aber das konnte ich aus Zeitgründen nicht mehr ausführen.  Pavel hat hier relativ geschickt hinter den Kulissen so lange mit dieser Antwort gewartet, bis ich nicht mehr vor der Deadline für die Veröffentlichung des Interviews auf seine Antwort reagieren konnte.

Aber auch inhaltlich ist Pavels Antwort hier sehr hochwertig, weil er letztlich mit einer Andeutung gewinnt.  Meine Forderung war ursprünglich, dass die Wikimedia Foundation in den USA auf den selben Servern, die jetzt die Wikipedia laufen lassen, auch noch eine Deletionpedia laufen lassen, und auch das nicht für alle gelöschten Artikel, sondern nur für die nicht aus juristischen Gründen gelöschten.  Wikimedia wäre genau so wenig angreifbar wie sie es jetzt sind.  Aber der Trick bei Andeutungen ist ja, dass die Falschdarstellung implizit ist und man sie nicht offen sagt.  Hier daher also: klarer Punkt an Pavel.

von Leitner: Haben Sie mal darüber nachgedacht, dass Levitation-Projekt großzügig zu unterstützen? Das ist ein externes Projekt, den Unterbau der Wikipedia zu modernisieren.

Auch dieser Vorschlag war als eine der Friedenspfeifen gedacht, auf die Pavel einfach hätte eingehen können.  Mir schwebte ein unverbindliches "gute Idee, wir prüfen das mal" vor.

Richter:  Unsere Spendergelder fliessen primär in die Förderung, Verbreitung und Sammlung Freien Wissens, insbesondere in die Wikipedia und ihre Schwesterprojekte. Der Verein hat gerade die Schwerpunkte und Aufgaben fürs nächste Jahr festgelegt und wir sind sicher, damit unsere Ziele sehr gut verfolgen zu können. Innerhalb der Community wird das Levitation-Projekt, das ja auch noch ziemlich neu ist, interessiert begleitet und diskutiert. Möglichkeiten der Zusammenarbeit oder der Unterstützung können sich daraus zukünftig durchaus ergeben.

Stattdessen gibt es auch hier kein Entgegenkommen.  Sehr schade, wie ich finde, weil Wikimedia damit an keiner Stelle auch nur das geringste bisschen Kompromissbereitschaft signalisiert hat.  Für den Leser sieht das jetzt wie ein Abwehrgespräch aus, nicht wie ein echter Dialog.

von Leitner: Wenn Wikimedia angeblich keinerlei Einfluß auf Wikipedia hat, wieso geben die Wikimedia-Mitarbeiter dann nicht ihre Admin- und Bürokraten-Rechte in der Wikipedia zurück? Es sind die vielen kleinen Details, die hier Grund zur Kritik geben, nicht das große Bild von oben.

Das ist zwar nicht ganz so fies und gemein wie die taktische Atombombe weiter oben, aber es ist auch ein sehr fieses Argument, weil es das Selbstverständnis des Vereins ins Mark trifft.  Der Verein besteht zum Großteil aus alten Wikipedia-Haudegen, die seit vielen Jahren in der Wikipedia mitarbeiten und sich dort auch entsprechendes Ansehen und erhöhte Zugriffsrechte erarbeitet haben.  Der Verein wäre daher perfekt geeignet, um innerhalb der Wikipedia Dinge voranzutreiben.

Leider will der Verein das nicht machen, und redet sich mit einem selbst auferlegten Neutralitätsgebot heraus.  In der Praxis editieren natürlich trotzdem die Wikimedia-Mitglieder fleißig an der Wikipedia herum, und stimmen mit ab und nehmen am Diskurs teil.

Wenn ich hier die Frage stellt, ob die nicht auf ihre Zugriffsrechte verzichten wollen, geht es mir daher gar nicht darum, diese Menschen in der Wikipedia zu entmachten, sondern den Verein dazu zu bringen, überhaupt mal öffentlich dazu zu stehen, dass sie enormen Einfluß in der Wikipedia haben.

Richter: Ich habe den Eindruck, dass wir beide aus unterschiedlichen Ecken kommen: Sie betrachten Wikipedia offensichtlich hauptsächlich aus der technischen Perspektive, Spendengelder sollen primär in Hard- und Software fliessen, etc. Das kann man so sehen, aber es ist eben nicht die Sichtweise des Vereins, für den ich arbeite. Wir haben einen deutlich breiteren Ansatz, sehen auch den gesellschaftlichen Aspekt der Verbreitung Freien Wissens, fördern Wikipedia-Autoren, wo wir das  können, und versuchen, das Projekt national und international zu vernetzen. Keine Frage, viele der Vorschläge und Kritikpunkte von Ihnen sind wichtig und richtig, einiges hätte man auch durch einfaches Nachfragen klären können. Sicherlich ist noch nicht alles perfekt bei uns; wir sind ein kleines Team, das eine der populärsten Websites im deutschsprachigen Raum unterstützt, mit einer großartigen Community zusammen.

Da war die Zeit offensichtlich noch nicht reif dafür, dass Pavel dazu öffentlich stehen kann.  Ich denke auch, dass er nicht absehen konnte, ob er damit im Verein einen Bürgerkrieg riskiert hätte.  Und so nimmt er lieber gar nicht Stellung und weicht auf Allgemeinplätze aus.

Man sieht auch sehr schön hier, dass auch aus Pavels Sicht wichtig ist, dass das Interview ein Happy End hat.  Es ist im Interesse beider Seiten, dass man zwar in Detailfragen knallhart seine Positionen vertritt, aber eben auch an manchen Stellen mit sich reden lässt und auf Kompromissangebote zumindest mit "da werden wir mal drüber nachdenken" reagiert und nicht rundheraus mit Ablehnung.  Wikimedia hat hier an keiner Stelle mit sich reden lassen, also brauchen sie zumindest am Ende ein paar versöhnliche Worte, und die sind auch ganz gut gelungen, wie ich finde.  Insbesondere der Teil "viele der Vorschläge und Kritikpunkte von Ihnen sind wichtig und richtig" ist hier elementar.  Damit drückt Wikimedia zumindest aus, dass sie mir nicht die Tür vor der Nase zugeschlagen haben, auch wenn sie in keinem Punkt mit sich reden gelassen haben.

Herr Richter, Herr von Leitner, herzlichen Dank für das Gespräch.

Es ist üblich, dass der Moderator das letzte Wort hat und den Teilnehmern für das Gespräch dankt.  Der einzige, der in diesem Interview völlig ohne Fehl und Tadel wegkommt, ist der Moderator.  Der hat seine Arbeit optimal gemacht. Pavel und ich haben uns ein paar Schnitzer geleistet, aber das ist ja auch in der Natur der Sache, und letztlich sind es ja auch die unperfekten Teile, die so ein Interview überhaupt lesenswert machen. Ich finde, dass wir uns beide ganz gut geschlagen haben, und hoffe, dass Pavel nicht bereut, mich das Interview voll zitieren zu lassen für diesen Artikel.

Zusammenfassung

Insgesamt bin ich mit dem Interview ganz zufrieden, auch wenn Pavel mich mit seinem Antworten-Timing in die Verlegenheit gebracht hat, dass ich zu seinen ganzen Antworten keinerlei Stellung mehr beziehen konnte im Interview. Ich weiß natürlich nicht, ob das Absicht war oder nicht, aber taktisch gesehen war es der Matchpoint.

Auf der anderen Seite muß ich mich natürlich auch fragen, was ich da noch hätte verbessern können, wenn ich die ganzen weiteren kritisierbaren Punkte auch noch kritisiert hätte. Letztlich kommt so schon rüber, dass es Kritik an der Wikimedia gibt, dass sie an einem Dialog kein wirkliches Interesse haben, und statt auf uns zuzugehen lieber ein Abwehrgespräch führen. Der normale Leser dieses Interviews kennt ja auch die Vorgeschichte nicht, wo Wikimedia dieses unsägliche Treffen in ihren Vereinsräumen einberufen hat, aber peinlich darauf geachtet hat, mich nicht einzuladen. Auch das hätte ich noch ansprechen können, aber es hätte glaube ich inhaltlich keinen Unterschied gemacht.

Und so ist aus meiner Sicht das Interview unter dem Strich ein Erfolg. Ich habe denen die Friedenspfeife gereicht und sie haben sie nicht angenommen. Das ist für den Durchschnittsleser eine stärkere Aussage als irgendwelche techno- oder bürokratischen Detailkritikpunkte. Ich hätte allerdings auch einige Punkte deutlich besser machen können. Während des Interviews war ich vor allem überrascht, wie persönlich Pavel meine Kritik genommen hat. Ich hatte den Eindruck, dass ich den schon vor dem Interview wirklich verärgert hatte, auch wenn das nur zwischen den Zeilen rauskam.

Meine Strategie war, wie ich ja oben schon ausgeführt habe, da erst mal die übelsten Kritikpunkte anzubringen, und ihnen dann ein paar unverfängliche Friedensangebote zu überreichen, um sie dann später daran erinnern zu können, dass sie sich ja Levitation mal angucken wollten. Das ist überhaupt nicht aufgegangen, was aus meiner Sicht mehr zu deren Schaden als zu meinem war. Da muß man bei Interviews immer mit rechnen, dass das ganz anders läuft, als man es sich vorgestellt hatte. Daher: den Schlachtplan nicht zu ernst nehmen. Der Weg ist das Ziel. Dabei geht es um die Gedanken, die man sich beim Verfassen des Schlachtplanes gemacht hat, nicht um die Punkte im Schlachtplan.

"Wer hat gewonnen?"

Der Interviewer hat verloren, wenn:

Als Interviewter hat man demgegenüber fast Narrenfreiheit. Ein Befragter hat verloren, wenn

Schlußwort

Ich hoffe, dieser Text hat dem einen oder anderen etwas geholfen. Anregungen und Kritik gehen bitte an die übliche Blog-Kommentaremailadresse.