Diesen Artikel schrieb ich für den Print-Tagesspiegel vom 22.12.2013 (Sonntagsausgabe), er ist vorab schon beim Tagesspiegel online zu lesen. Aus Transparenzgründen veröffentliche ich hier die Rohfassung meines Textes.Der zuständige Mitarbeiter beim Tagesspiegel war Sebastian Leber, der den Text für den Tagesspiegel noch ein wenig umformuliert hat, um aus seiner Sicht die Verständlichkeit zu erhöhen. Weil die Änderungen etwas größer als sonst bei meinen Texten ist, sage ich das diesmal ausdrücklich dazu: Die geänderte Version wurde mir vorgelegt und ich habe sie abgenickt.
Dank der Snowden-Enthüllungen wurden dieses Jahr viele Verschwörungstheorien bestätigt. Man hat es kommen sehen: Unter der Prämisse „Geld spielt keine Rolle“ und mit der Zielvorgabe „Big Data“ – als Begriff irrtümlicherweise immer noch positiv besetzt – wurden nicht nur hie und da gezielt Daten Einzelner erhoben, sondern einfach alles abgespeichert. Massenspeicher werden seit Jahren ohnehin immer größer und billiger.
Mit der Prämisse, dass die Budgets fast unbegrenzt sind und dass sie alles speichern, dessen sie habhaft werden können, kann man sich sich aus der Geheimdienst-Perspektive überlegen, wie man das umsetzen würde. Wo würde man die Daten ausleiten, um mit möglichst wenig Aufwand möglichst große Teile der Netze zu unterwandern? Völlig klar: In Europa sind das die Unterseekabel in Großbritannien sowie die großen Internet-Knotenpunkte in Frankfurt, Amsterdam und London. Kein Dementi kann glaubwürdig sein, wenn es in Abrede stellt, dass an diesen Stellen abgehört wird – und zwar von jedem, der sich Zugang verschaffen konnte. Großbritannien und die Niederlande sind ohnehin offizielle Schnüffelpartner der NSA. Das dritte Land, Deutschland, hat sich hinter einer Wolke aus Desinformationspolitik und „für beendet erklären“ verschanzt und ist offensichtlich nicht an Aufklärung interessiert. Diese Tage hat der Generalbundesanwalt gar öffentlich einen Anfangsverdacht für Ermittlungen verneint.
Als zuständiger Techniker würde man noch die restlichen Daten-Grossisten, die sogenannten Carrier, nach Datenumsatz sortieren und auch dort überall Schnüffelschnittstellen installieren, etwa bei der Telekom. Und weil kluge Menschen angefangen haben, ihre Daten zu verschlüsseln, muss auch noch der Zugriff vor der Verschlüsselung oder nach der Entschlüsselung her. Das kann man erreichen, indem man über die gesetzlich vorgeschriebenen Hintertüren bei Hotmail und Co. Anfragen stellt, die internen Datenleitungen von Google anzapft, sich in Telekommunikationsfirmen reinhackt oder Trojaner installiert. Die NSA hat, das wissen wir jetzt, alles das getan.
Dieselben Ansätze würde man auch für das Telefonnetz und insbesondere die Mobilfunknetze wählen. Diese werden inzwischen in Form von digitalen Datenpaketen über dieselben Internetleitungen übertragen. Man braucht hier also nicht mehr wie früher verschiedene Schnüffel-Technologien vorzuhalten, um etwa Vodafone oder Telefonica anzuzapfen.
Bei dem Entsetzen über die Geheimdienste wird gern übersehen, dass sie nicht immer Gesetze übertreten müssen, weil Rechtsnormen ihrer Schnüffelei explizit entgegenkommen. Spionageschnittstellen für „Bedarfsträger“ – gängiges Beamtendeutsch für Polizei und Geheimdienste – sind gar EU-weit vorgeschrieben. Die großen Telekommunikationsunternehmen sind oder waren entweder Staatsmonopole und noch immer weitgehend unter staatlicher Kontrolle. Da ist also nicht mit Gegenwehr zu rechnen, wenn der Staat anklopft und eine Kopie aller Daten verlangt.
Das alles ist nur der Status quo. Dass die NSA Staatschefs abhört, kann niemanden überraschen: Es ist die Kernaufgabe von Geheimdiensten. Es glaubt hoffentlich niemand, dass der BND eine Gelegenheit verstreichen ließe, Putins Telefon zu verwanzen. Die “wir sind doch Freunde”-Rhetorik ist so lächerlich, dass Politiker Schwierigkeiten haben, dabei das Gesicht zu wahren. Der Gedanke, Partner der USA seien ausgenommen, ist natürlich völlig abwegig. Fast jedes Land der Erde glaubt schließlich von sich, ein Partner der USA zu sein.
Der Guardian-Chefredakteur Alan Rusbridger hat kürzlich erklärt, bisher sei erst ein Prozent der Snowden-Dokumente verwertet worden. Was ist also 2014 zu erwarten?
Es gibt einige Länder, die noch auf ihren Snowden-Skandal warten. Der Frankfurter Internetknoten DE-CIX war schon im Gespräch, sein Amsterdamer Pendant AMS-IX jedoch noch nicht. Letztlich hat jedes Land mit Geheimdienst Dreck am Stecken. In einer Zeit, in der sich sogar Luxemburg und Äthiopien Geheimdienste leisten, gibt es genug Schmutzwäsche für jahrzehntelange Aufarbeitung.
Vielleicht ist die wichtigere Frage, welche Enthüllungen nicht zu erwarten sind. Snowden hat sowohl für die NSA als auch die CIA gearbeitet, aber die Veröffentlichungen betreffen bisher fast ausschließlich die NSA. Diese rechtfertigt ihre Schnüffelei auch damit, dass sie Zielkoordinaten für Drohnenschläge der CIA bereitstellt. Wieso haben wir denn darüber so wenig erfahren aus den Snowden-Unterlagen?
Afghanistan ist ein vollständig abgehörtes Land. Wieso stellen sich dann zu oft Drohnenopfer als Teilnehmer einer Hochzeitsfeier heraus? Sind diese Art von Koordinaten vielleicht selbst mit der maximal erreichbaren Informationsdichte nicht zweifelsfrei bestimmbar? Können wir uns dann das Abhören vielleicht gleich ganz sparen?
Leider ist die internationale Presse von vorauseilendem Gehorsam geprägt und bemüht sich nachdrücklich, keinerlei Dinge zu veröffentlichen, die nachher so ausgelegt werden könnten, als hätten sie Menschenleben (insbesondere von Amerikanern) gefährdet. Zu Recht, wenn man die im Fernsehen ausgestrahlte Befragung des Guardian-Chefredakteurs betrachtet, der sich ernsthaft fragen lassen lassen musste, ob er eigentlich sein Land liebt und ob er auch den Nazis das Wissen die Codes der Enigma verraten hätte. Auch die Behandlung von Chelsea (früher Bradley) Manning wurde hier von vielen Journalisten als Wink mit dem Zaunpfahl empfunden.
Erwarten könnten uns 2014 die Inhalte der mitgehörten Telefonate oder SMS von Staatschefs. Aber sehr wahrscheinlich ist das nicht. Es hat auch vergleichsweise wenig Enthüllungen über Cloud-Provider gegeben. Amazon als Platzhirsch der Branche hat kürzlich einen Großauftrag der CIA eingeheimst. Amazon ist bei den PRISM-Enthüllungen als praktisch einziger großer Cloud-Provider nicht explizit aufgetaucht.
Wo bleibt die nächste Version von Stuxnet? Gar nichts über geheime Folterknäste, neue Details zum “Rendition”-Kidnappingprogramm oder Wahlmanipulationsversuche in Venezuela? Wieso haben wir noch nichts über Infrastrukturhilfsprogramme der USA in Afrika gehört, ob die am Ende der NSA Fernwartungszugriff auf anderer Länder Infrastruktur ermöglicht? Bei den Dokumenten könnten auch Details über den Estland-Cyberwar-Angriff von 2007 dabei sein. Das Jahr 2014 könnte sehr spannend werden.
Der größte Themenbereich, der bisher ausgeblendet blieb, sind die Finanzmärkte. Die Datenstaubsauger von NSA und CIA haben hier sicher ausgesprochen spannende Einsichten. Wer hat seit wann was gewusst und womöglich mitgezockt?
Was immer noch alles rauskommen mag: Für die Menschen bleibt die Erfahrung, von einem Geheimdienst auf der anderen Seite der Erde und dessen Vasallen abgehört zu werden, abstrakt und unkonkret. Nur für wenige ergibt sich bisher daraus ein konkreter Handlungsbedarf. Frau Merkel hat das erkannt, sitzt die Affäre einfach aus und speist uns mit ein paar Floskeln ab. Ist vielleicht kein Zufall: Die Geheimdienste haben ja gerade deshalb so eine Macht über die Politik, weil die Abgehörten annehmen müssen, dass in den Geheimdienst-Verliesen über jeden von ihnen eine Akte mit karrierebeendenden Details lagern. Ein paar von diesen Akten hätte ich gern mal gesehen.