Am 7. Dezember 2006 erhielt ich ein Schreiben vom Bundesamt für Verfassungsschutz, in dem mitgeteilt wurde, dass zwischen dem 28.4.1998 und dem 23.10.1998 sowohl der Telefonanschluss als auch der Postverkehr überwacht worden waren. Begründet wurden diese G-10-Maßnahmen damit, dass ich verdächtigt wurde, Mitglied der terroristischen Vereinigung ›ARMK‹ zu sein, der »zahlreiche Brandanschläge und Sabotageaktionen mit erheblichem Sachschaden« in der Zeit von 1988 bis 1996 zugeordnet wurden.
Am 29. Februar 2007 legte ich Widerspruch gegen oben bezeichnete G-10-Maßnahmen ein:
»Da es keine konkreten Verdachtsmomente gibt, die in dem Schreiben des Bundesamtes für Verfassungsschutz aufgeführt sind, muss ich von einer Fantasiekonstruktion ausgehen. Eine selbst geschaffene Vorratsorganisation, mit dem verfassungswidrigen Ziel, mit den freigegebenen ermittlungstechnischen Mitteln die Verdachtsmomente erst zu finden, die Voraussetzung sein müssten, um einen solch schwerwiegenden Eingriff in die Schutzrechte vornehmen zu können.«2
Nach Durchsicht der zur Verfügung gestellten Akten des Bundesministeriums des Innern/BMI und des Bundesamtes für Verfassungsschutz/BfV ließen sich folgende Umstände rekonstruieren:
1998 wurde im Rahmen eines Ermittlungsverfahren wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung (nach § 129a) vom Bundesamt für Verfassungsschutz/BfV Maßnahmen zur Telefon- und Briefüberwachung, eine sogenannte G-10-Maßnahme beantragt.
Ein solcher Eingriff erfolgt der geltenden Rechtsprechung folgend nicht aufgrund der politischen Einstellung, sondern durch Darlegung ›tatsächlicher Anhaltspunkte‹, was - immerhin - einem Wirklichkeitsgrad von plus/minus 50 % entspricht.
In diesem Fall musste ein einziger ›tatsächlicher Anhaltspunkt‹ reichen, der es dafür in sich hatte: Ein V-Mann des hessischen Verfassungsschutzes will just vor Beantragung oben erwähnten Eingriffs ein Gespräch zwischen mir und anderen Personen mitbekommen haben. Von den durch Schwärzungen unkenntlich gemachten Passagen abgesehen gleicht es einer Lebensbeichte, die von schwerer Kindheit und Leben als Berufsrevolutionär über aktuelle bis hin zu geplanten Anschlägen reicht.
Das Ministerium des Inneren als Oberster Dienstherr prüfte den Antrag, hielt ihn für evident und reichte ihn zur Bewilligung bei G-10-Ausschuss im Deutschen Bundestag ein. Dieser will ihn geprüft haben und bewilligte den Lauschangriff für drei Monate.
Eigentlich verlief die Überwachungsmaßnahme völlig ergebnislos, wenn es da nicht ein abgehörtes Telefonat gegeben hätte, das das BfV als ein Gespräch zwischen zwei verdächtigen Mitgliedern einer terroristischen Vereinigung ausgegeben hätte.
Mithilfe eines völlig entstellten, größtenteils geschwärzten Telefonprotokolls und der orwellschen Begründung, dass der Mangel an weiteren ›tatsächlichen Anhaltspunkten‹ beweise, dass sich die ausgespähte Person besonders konspirativ verhalte3
, wurde die Verlängerung der G-10-Maßnahme beantragt und anstandslos genehmigt.
Nach ergebnislosen sechs Monaten wurde der Spähangriff abgebrochen, wenig später das ihm zugrunde liegende Ermittlungsverfahren eingestellt.
Trotz der selektiv zur Einsicht überlassenen Akten und der darin vorgenommenen Schwärzungen, die für gewöhnlich eine Überprüfung erschweren bzw. unmöglich machen sollen, reichte ich Klage gegen die o.g. Maßnahmen ein.
Im Kern ging es darum, folgenden Nachweis zu führen:
Der V-Mann, der makabrerweise auch noch ›V-Mann 123‹ heißt, existiert gar nicht. Er ist eine Erfindung, das Gespräch wurde nie geführt.
Das abgehörte Telefonat, das die intensiven Beziehungen terroristischer Mitglieder belegen soll, würde das Gegenteil beweisen, wenn der Inhalt nicht unterschlagen worden wäre.
Die massiven Schwärzungen an entscheidenden Stellen und die vorenthaltenen Akten dienen nicht dem Schutz der Bundesrepublik Deutschland und deren V-Männer. Sie sollen die gezielte und vorsätzliche Manipulation vertuschen, mithilfe derer der G-10-Ausschuss des Bundestages mit frisierten und nicht vorhandenen ›Beweisen‹ getäuscht werden sollte.
Mit dem Widerspruch war der Hilfsantrag verbunden, das BfV bzw. das Ministerium des Inneren dazu zu zwingen, die für die Überprüfung der Rechtmäßigkeit verfahrensrelevanten Unterlagen herauszugeben.
Im Prozessverlauf legte ich mehrere Beweise dafür vor, dass die zur Durchführung einer G-10-Maßnahme notwendigen ›tatsächlichen Anhaltspunkte‹ entweder fingiert oder vorsätzlich manipuliert wurden. Weder gibt es einen V-Mann 123, noch gab es jemals besagtes Gespräch. Die Offenlegung der »in erheblichem Umfang geschwärzten Verwaltungsvorgänge«4 würde die vorgelegten Beweise stützen und die vorsorgliche Schutzbehauptung der Beklagten, die Unrichtigkeit der Anhaltspunkte wäre nicht erkennnbar gewesen, als Lüge entlarven.
Auch das Gericht äußerste seine erheblichen Zweifel, auf scheinbar affirmative und für alle überraschende Weise: Wenn es diesen V-Mann 123 gibt, dann sind die streitgegenständlichen G-10 Maßnahmen nicht begründet, sondern in besonderem Maße rechtwidrig.
Diese Argumentation leitete das Gericht aus dem Prinzip der Subsidiarität ab, ein elementarer Rechtsgrundsatz, der sich aus dem Grundsatz zur Verhältnismäßigkeit ableite. Nach geltender Rechtsprechung stellen ›Beschränkungen‹ nach Art. 10 GG die Ultima Ratio, die schwersten Eingriffe in die Grundrechte dar. Erst wenn sich nachrichtendienstliche Mittel, zu denen auch der Einsatz von V-Männern zählt, unterhalb der Schwelle von Eingriffen in das Post- und Fernmeldegeheimnis als erfolg- und aussichtslos erwiesen haben, könne man von diesem Rechtsmittel Gebrauch machen.
Der Pflicht zur Darlegung der Erforderlichkeit der G-10-Maßnahme ist also erst dann Genüge getan, wenn die Untauglichkeit anderer Aufklärungsmöglichkeiten »substantiiert und überprüfbar begründet« sind. Dazu müssten die »hierfür aus operativer Sicht wesentlichen Tatsachen konkret benannt werden…. Die formelhafte … Behauptung, dass eine Erforschung des Sachverhalts auf andere Weise aussichtslos oder wesentlich erschwert wäre, reicht demnach nicht aus … Gemessen daran ist die Begründung in den angegriffenen Anordnungen … unzureichend. Sie lässt nicht erkennen, welche Gründe hierfür konkret maßgeblich sind, und entzieht sich deshalb einer rationalen Überprüfbarkeit …«5
In diesem Kontext kommt dem V-Mann 123 eine besondere Bedeutung zu: »Hat sich der Verfassungsschutz in einem Verdachtsfall bereits einer Vertrauensperson bedient, so ist eine Anordnung von Beschränkungsmaßnahmen nach dem Gesetz zu Art. 10 GG nur dann zulässig, wenn konkrete Tatsachen es ausschließen oder wesentlich erschweren, diese Quelle auch weiter für eine Erforschung des Gefahrenverdachts zu nutzen.«6
Die fantastische Gestalt des ›V-Mann 123‹ fiel also dem BMI bzw. dem VS auf ungeahnte Weise auf die Füße.
Nachdem der Prozessbevollmächtigte des BMI, Prof. Dr. Heinrich Amadeus Wolff nichts Substanzielles entgegnen konnte und für alles Weitere einen gerichtlichen Beweisbeschluss forderte, schloss der Vorsitzende Richter die Verhandlung.
In der schriftlichen Urteilsbegründung der 1. Kammer des Verwaltungsgericht Berlin vom 8.7.2009 wird festgehalten:
»1. Die Klage ist zulässig…..
2. Die Klage ist auch begründet. Die vom BMI dem Kläger gegenüber angeordneten Überwachungsmaßnahmen waren rechtswidrig.«7
Der überraschende Erfolg dieser Klage hatte auch eine dunkle Seite. Schließlich ließ es das Gericht offen, ob es den besagten V-Mann 123 gibt, da dies für die Rechtswidrigkeit der Maßnahme nicht entscheidungserheblich gewesen sei. Viele Beobachter waren deshalb auch der Ansicht, dass das BMI bzw. der Verfassungsschutz damit gut leben könnten. Auch ich fragte mich, ob man auch gegen ein erfolgreiches Urteil Berufung einlegen kann. Diese spielerische Überlegung erledigte sich mit dem Schreiben des BMI vom 30.7.2009, in dem Berufung gegen das ergangene Urteil angekündigt wurde.
Knapp zwei Monate später lag die Begründung des Antrages auf Zulassung der Berufung vor: Auf 40 Seiten mit schätzungsweise 400 Verweisen auf Paragrafen, Absätze, Urteile und Kommentare wird dargelegt, warum man mit dem Urteil partout nicht leben will.
Wenn man die Hunderte von Kommentarverweise und Urteile einfach mal rausfiltert und sich ganz auf das Grundtonpfeifen konzentriert, findet man recht schnell den ›Stein des Anstoßes‹: Das Urteil hält unmissverständlich fest, dass die (gängige) Praxis des Verfassungsschutzes, einen massiven Eingriff in Grund- und Schutzrechte mit »formelhaften« Satzbausteinen (»eine Aufklärung des Sachverhalts (ist) allein mit anderen nachrichtendienstlichen Mitteln nicht möglich«) zu begründen, rechtswidrig ist. Darüber hinaus, und das ist in der Tat für gesamte V-Mann-Praxis des VS von erheblicher Bedeutung, weist das Gericht die Standardbegründung von VS/BMI zurück, eine nachvollziehbare Überprüfbarkeit von V-Mann-Erkenntnissen gefährde den Schutz des V-Mannes, den Verfassungsschutz und summa summarum die Bundesrepublik Deutschland.
Für den Wahrheitsgehalt von V-Mann-Erkenntnissen bürge nicht die Glaubwürdigkeit des Präsidenten des Verfassungsschutzes8, sondern einzig und allein eine überprüfbare »Darstellung sämtlicher erfolglos eingesetzter nachrichtendienstlichen Mittel und die fehlenden Erfolgaussichten nicht eingesetzter nachrichtendienstlicher Mittel«.
Folglich müsse jede Anordnung »substantiiert und nachprüfbar begründet« werden, was selbstverständlich auch die Überprüfbarkeit und Verifizierbarkeit von ›tatsächlichen Anhaltspunkten« einschließt.
Was eigentlich nur den Unterschied zwischen einem Rechtsstaat und einem ›Unrechtsregime‹ in Erinnerung ruft, löste beim BMI und VS helles Entsetzen und dramatische Szenarien aus:
»Diese Konkretisierung ist völlig neu und ist mit einer historischen, wörtlichen und teleologischen Auslegung von § 4 G 10 a.F. kaum zu begründen. Diese Konkretisierung schießt weit über das Erfordernis einer substantiierten Darlegung hinaus. Eine solch detaillierte Darlegung würde, wenn man sie ernst nehmen würde, die Offenbarung der eigenen operativen Schwächen erfordern; was kaum vom G 10 gefordert sein dürfte.«9
Vorsorglich verweist die Berufungsbegründung auf die »grundsätzliche Bedeutung« (S.36) dieses Urteils und auf insgesamt neun »fallübergreifende Rechtsfragen«, die »einer Klärung bedürfen«, wobei sich eine besonders hervorhebt:
»Muss ein Antrag gemäß § 4 Abs. 3 S. G 10 a.F. immer ausdrücklich darlegen, weshalb die Beweismittel (bzw. immer dann, wenn es um einen V-Mann geht), mit denen das Vorliegen eines Verdachts im Sinne von § 2 Abs. 1 G 10 a.F. dargelegt wird, nicht zur Erforschung des Sachverhaltes ohne Telekommunikationsbeschränkung ausreichen?« (S.38)
Dass dieses Urteil nach dem Willen des BMI/VS keinen Bestand haben darf, dass es fallübergreifenden Präzedenz-Charakter bekommen könnte, versteht man, wenn man mitberücksichtigt, dass diese Praxis seit Jahren Gang und Gebe ist.
In zahlreichen, gerade politischen Prozessen, spielen (tatsächliche/erfundene) V-Männer eine herausragende Rolle. In aller Regel werden wesentliche Akten, die eine Überprüfbarkeit seiner Existenz und seiner Einlassungen möglich machen könnten, gesperrt. Und im Prozess selbst werden die Erkenntnisse über einen Beamten eingeführt, der mit seiner beschränkter Aussagegenehmigung eine Überprüfbarkeit unmöglich macht.
Diese Praxis macht nicht einmal gegenüber einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss Halt. Der Versuch, die Verwicklung des Bundesnachrichtendienstes/BND im Krieg gegen den Irak 2001 und die Beteiligung des BND bei CIA-Flügen mit Terrorverdächtigen via deutsche Flughäfen aufzuklären, scheiterte an eingeschränkten Aussagegenehmigungen für geladene Zeugen und der teilweisen Sperrung von angeforderten Akten. Dabei berief sich die Bundesregierung auf einen ›Kernbereich der exekutiven Eigenverantwortung‹, eine andere Umschreibung für eine rechtsfreie Zone.
Gegen diese massiven Behinderungen haben FDP, Grünen und Linksfraktion vor dem Bundesverfassungsgericht geklagt und weitgehend Recht bekommen.10
Wolf Wetzel Oktober 2009
2 Schreiben an das VG Berlin vom 29.2.2007
3 Nach dem Motto: Wer nicht einmal mit Anhaltspunkten zum geheimdienstlichen Verdacht beiträgt, ist nicht unschuldig, sondern besonders schlau und gefährlich.
4 Urteil des VG-Berlin vom 8. Juli 2009, S.6
5 Beschluss der 1. Kammer des Verwaltungsgericht Berlin vom 8.7.2009, S.11
6 Beschluss der 1. Kammer des Verwaltungsgericht Berlin vom 8.7.2009, S.12
7 Beschluss der 1. Kammer des Verwaltungsgericht Berlin vom 8.7.2009/ VG 1 A 10.08
8 Tatsächlich gibt es in den Berufungsschreiben des BMI genau diese feudalstaatliche Begründung: »Auch nach dem Bundesverwaltungsgericht verlangt die Darlegung des Verdachts … nicht die Preisgabe der Informationsquellen, für deren Zuverlässigkeit der Präsident des BfV persönlich die Verantwortung (…) übernimmt … «
9 Berufungsschreiben des BMI vom 16.9.2009
10 SZ vom 23.07.2009